Mittelosteuropa hat die EU noch nicht verstanden

Die Flüchtlingskrise in Europa spitzt sich zu. Deutschland ist mit seiner Willkommenskultur erstmals ernstlich überfordert und hat Grenzkontrollen wiedereingeführt. Zugleich rühren mittel- und osteuropäische Staaten Beton an, wenn es um die Einführung verbindlicher Quoten für die Aufnahme von Migranten geht. Zur europäischen Migrationspolitik im Folgenden ein Interview für das Radio Prag mit dem Politologen Vladimír Handl vom unseren Institut für internationale Beziehungen in Prag.

Herr Handl, die Europäische Union kann sich in der Flüchtlings- bzw. Migrationspolitik überhaupt nicht einigen. Am Montag scheiterte ein Treffen der EU-Innenminister. Können Sie noch einmal kurz den tschechischen Ansatz erläutern, warum verbindliche Quoten abgelehnt werden?

„Die tschechische Politik läuft auf zwei Ebenen. Das eine ist die Ebene der langfristigen Lösungen. Und da, muss man sagen, ist die tschechische Politik durchaus europäisch orientiert. Alle Ansätze, die sie unterstützt oder selbst entwickelt, sind europäisch gedacht: Vorbeugemaßnahmen, Lösungen für die Krisenherde oder Krisensituationen sowie die Unterstützung der Flüchtlinge in den Regionen, in denen sie jetzt leben. Die kurzfristigen Lösungsansätze dagegen sind wirklich sehr defensiv. Da bemüht sich die tschechische Politik, wie auch die Politik der meisten mittelosteuropäischen Länder, sich von der Flüchtlingsfrage abzuwenden. Diese sehr defensive, ängstliche Reaktion grenzt zum Teil auch an Hysterie. Und die hat dann politisch-kulturelle Gründe.“

Könnten Sie ein paar dieser Gründe erläutern?

„Der wichtigste Grund für diese defensive Haltung ist eine mangelnde historisch-kulturelle Erfahrung in einer multikulturellen Welt und mangelnder direkter Kontakt mit anderen Ethnien und Kulturen. Die frühere Tschechoslowakei war ab 1918 zunächst ein Land, in dem Tschechen, Deutsche, Slowaken, Polen, Ungarn und Juden lebten. Das Zusammenleben war nicht unproblematisch, aber trotzdem sehr bunt und multikulturell. Was wir jetzt haben, ist eine fast rein tschechische Gesellschaft. Die Zahl der Menschen, die keine tschechische Herkunft haben, wächst nur langsam. Aktuell haben etwa 3,8 Prozent der Bevölkerung keinen tschechischen Hintergrund. Aber der Wandel ist vor kurzem in Gang gekommen, und die Zahlen sind noch immer sehr niedrig. In Deutschland haben ungefähr 12 Prozent einen Migrationshintergrund, in Österreich etwa 17 Prozent der Bevölkerung. Der zweite Grund, den ich anführen möchte, ist eine gewisse Verunsicherung angesichts des eigenen Status. Die Menschen haben mittlerweile einen gewissen Lebensstandard erreicht nach den vielen Jahren der Transformation. Und diesen Stand verteidigen sie ganz reflexartig. Sie fühlen sich unter Druck gesetzt durch die ‚virtuelle Immigration‘, denn wir haben hierzulande ja noch gar keine richtige massenhafte Immigration.“

Gibt es auch politische Gründe?

Ja, wir erleben gerade eine Krise der Politik. Hierzulande gibt es keine Parteien, die Bevölkerung und Gesellschaft leiten, Ideen generieren und die Menschen für programmatische Lösungen gewinnen könnten. Wir haben keine politischen Meinungseliten oder Meinungsführer, die kritische Fragen – nicht nur die der Migration, sondern auch andere Fragen – wirklich behandeln und dann noch den Leuten erklären könnten. Also kurz gesagt: Es fehlt ein neuer Havel. Expräsident Václav Havel war eine Persönlichkeit, die diese Fähigkeiten hatte. Wir haben zurzeit keinen Spitzenpolitiker, der diese Rolle übernehmen und Meinungsführer sein könnte. Das ist, glaube ich, eine strukturelle Schwäche der meisten mittelosteuropäischen Länder. Politik ist nur eine Sache der Verwaltung, des Tagesgeschäftes. Politik ist keine Aktivität, die Menschen wirklich für sich einnehmen könnte. Und die Kombination aus schwacher Politik, Bestandsängsten und kulturellen Ängsten der Menschen ist der Hauptgrund für die wirklich defensive Haltung der tschechischen Gesellschaft. Die Politik rennt dann hinter den Meinungsumfragen und der Meinungsbildung der Gesellschaft hinterher und hat keine Kraft und kein eigenes Potential, um die Dinge anders zu formulieren und die Menschen zu führen.“

Wenn ich noch einmal zurückkomme auf die Lösungsmöglichkeiten, die es jetzt kurzfristig geben würde: Da wendet sich ja Tschechien gegen verbindliche Quoten. Glauben Sie denn, dass eine Quotenregelung tatsächlich eine Entlastung für Europa bringen würde?

„Wir haben momentan keine andere Wahl, um in der gegenwärtigen Situation, in der die europäischen Länder unter diesem riesigen Immigrationsdruck stehen, diese Last einigermaßen zu bewältigen. Ich glaube nicht, dass das die drei heute sehr offenen Länder allein bewerkstelligen können, also Deutschland, Österreich und Schweden. Da muss sich Europa als Ganzes viel stärker engagieren. In diesem Sinne ist kurzfristig eine faire und realistische Verteilung oder Teilung der Last eine unmittelbare Aufgabe aller europäischen Länder.“

Könnte die Krise der Flüchtlingspolitik denn sogar den Geist der EU, also die Wertegemeinschaft bedrohen?

„Ich befürchte, die Krise beweist, dass die mittelosteuropäischen Länder nicht richtig verstanden haben, was es heißt, Mitglied der Europäischen Union zu sein. Die gemeinsamen Werte und auch die Prinzipien des gemeinsamen politischen Raumes sind von den Ländern Mittelosteuropas nicht ganz verinnerlicht worden. Anders gesagt, ich glaube, dass die Europäische Union in den mittelosteuropäischen Ländern vor allem als ein Instrument wahrgenommen wird: für wirtschaftliches Wachstum, für Sicherheit, für Zusammenarbeit und auch für die Entwicklung der Infrastruktur. Das alles ist sehr wohl möglich und wird auch gewollt und unterstützt. Aber bei Krisenerscheinungen wie der Eurokrise oder jetzt auch der Immigrationsfrage zeigt sich, dass diese Länder doch primär nationalstaatlich denken und damit eigentlich den Nationalstaat vor die Europäische Union stellen. Und das ist, glaube ich, ein strukturelles Problem, im Übrigen auch im Westen Europas nicht unbekannt. Die mittelosteuropäischen Länder sind einfach noch nicht so lange Mitglieder der Europäischen Union. Die Anpassung dauert noch länger, als wir dachten. Und deswegen, glaube ich, sind wir jetzt in dieser Situation.“

Das Interview können Sie hier finden.

Über den Autor: JUDr.Vladimir Handl, CSc. ist der Politikwissenschaftler und er arbeit in dem Institut für Internationale Beziehungen. Er interessiert sich für die deutsche Außenpolitik und die deutsch-tschechischen Beziehungen.





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